Ad Astra – zu den Sternen
Über meinem Schreibtisch hängt ein Poster mit einem speziellen Ausschnitt des Weltalls. Während der Arbeit blicke ich immer mal wieder auf das Bild, was in mir unmittelbar das Gefühl von Gelassenheit auslöst. Gerne nehme ich dich mit auf eine kurze Reise durchs Universum und erzähle dir, was eine Raumsonde mit der Erleuchtung zu tun hat.
Pale blue dot – blassblauer Punkt
Am 5. September 1977 beförderte die NASA die Raumsonde Voyager 1 in den Weltraum. Ein Missionsziel war, Bilder des äusseren Planetensystems zur Erde zu senden, was sie fleissig und mit beeindruckenden Resultaten auch tat. Nach Abschluss dieser Aufgabe, sollte die Kamera abgestellt werden, um Strom zu sparen. Schliesslich dauerte die Reise bereits 13 Jahre. Der Astronom Carl Sagan veranlasste am 14. Februar 1990, die Sonde um 180° zu drehen, um aus dieser Perspektive letzte Fotos aufzunehmen. Dabei entstand ein Bild, welches als „pale blue dot – blassblauer Punkt“ bekannt und ausgezeichnet wurde.
Möglicherweise musst du das Foto etwas vergrössern, um die Erde im rechten Strahl zu entdecken. Sie nimmt lediglich 12% eines Bildpunktes (Pixel) ein.
Zu diesem Zeitpunkt betrug die Distanz zur Erde 6 Milliarden Kilometer. Voyager 1 fliegt noch heute durch den interstellaren Raum und sendet zuverlässig Daten. Der voraussichtlich letzte Kontakt mit der Erde wird in den 2030er Jahren erwartet.
Gelassenheit und Demut
Was geht dir durch den Kopf, wenn du diesen winzigen Punkt siehst und weisst, dass du genau auf diesem Planeten lebst, liebst und wirkst? Wird dir bei dieser Vorstellung eher schwindlig oder empfindest du Dankbarkeit und Freude?
Diese Sicht auf die Erde löst in mir Gelassenheit aus. Nicht alles ist so wichtig, wie ich glaube. Selbst wenn ich mich in einer herausfordernden Situation befinde, ist diese verschwindend klein, wenn ich aus 6 Milliarden Kilometer Entfernung darauf blicke. Auch alle freudigen Momente wirken flüchtig und leicht wie ein Hauch des Windes, der über die Wangen streicht.
Die Tatsache, dass mich etwas viel Grösseres, ja Unendliches wie das Universum umgibt und sogar alles durchdringt, weckt in mir die Demut. Auch wenn ich meine Taten für edel und gut halte, im Grunde bewirke ich nichts. Denn es ist die schöpferische, unsichtbare und intelligente Kraft, die alles, was da ist, im Innersten zusammenhält. Der Blick auf den blassblauen Punkt erinnert mich daran, mein Ich-Gefühl im richtigen Verhältnis zu betrachten. Ich vermag zwar Formen zu erschaffen und mich mit meinem Handeln auszudrücken, aber es ist immer das Leben selbst, das wirkt.
Ad Astra – zu den Sternen
Das All hat mich von frühester Kindheit an fasziniert. Wahrscheinlich kannte ich die Planeten unseres Sonnensystems vor den Wochentagen und die Apollo- und Space-Shuttle-Missionen vor dem ABC, jedenfalls kommt es mir heute so vor. Mein Vater erklärte mir den Sternenhimmel und wir versanken regelmässig in den farbenfrohen NASA-Bildbänden. Ich erinnere mich genau, dass ich damals beim Anblick von Galaxien, Sternen und Dunkelwolken nie das Gefühl hatte, es handle sich um etwas „da draussen“, weit Entferntes und von mir Getrenntes. Mir war stets, als blicke ich in mich selbst hinein, als sei alles da, ganz unmittelbar, im tiefsten Grund meiner Seele.
Das führt mich nun zu einem Zitat von Dogen Zenji (1200–1253). Er war ein einflussreicher Lehrer des Zen-Buddhismus.
Den Weg der Erleuchtung kennenlernen und meistern heisst,
sein wahres Selbst kennenlernen und meistern.
Sein wahres Selbst kennenlernen und meistern heisst,
sich selbst vergessen.
Sich selbst vergessen heisst,
mit dem ganzen Universum eins sein.
Die Erleuchtung interessierte mich als Kind nicht die Bohne. Die Selbstvergessenheit gehörte hingegen ganz zum Privileg meiner ersten Lebensjahre. Du erinnerst dich sicher auch daran, wie du im ausgelassenen Spiel oder beim Beobachten eines Käfers Zeit und Raum um dich herum vergessen hast, du warst eins mit allem. Der Ruf zum Abendessen kam einem Erdbeben gleich, der heilige Moment war zerstört und mündete nicht selten in ein lautstarkes Drama.
Als erwachsener Mensch fällt es dir möglicherweise viel schwerer, diese kindliche Fähigkeit zur Selbstvergessenheit zu reaktivieren. Aber glaube mir, sie ist immer noch da!
Im Grossen versinken
Vielleicht magst du den Weltraum nicht. Für viele Menschen ist er der Inbegriff für Einsamkeit, Leere und Kälte. Dann suche dir etwas anderes, den Wald, das Meer oder die Berge. Die pure Natur wird dich immer zur Erkenntnis führen, dass in allem etwas viel Grösseres wirkt, als du es dir vorstellen kannst, du aber gleichzeitig selbst ein Teil davon bist.
Je öfter du dich darin übst, dich selbst auf diese Weise zu vergessen, indem du ganz in dieser unendlichen Grösse versinkst und verschwindest, je mehr weitet sich dein Bewusstsein und eröffnet dir einen neuen Blick auf die Welt, die Menschen, die Natur, das Leben. Du gibst dich damit nicht etwa auf, sondern du wächst über dich hinaus.
Wer dann in deine Augen schaut, sieht das Funkeln und Strahlen, als wären es Sterne und gleichzeitig ein Echo der eigenen Tiefe. Das ist Erleuchtung, für dich, wie für andere. Du musst sie nicht suchen und nicht finden, sie ist in jedem Moment der Selbstvergessenheit da.
* * *
Ich bin keine Eule, somit fehlt mir der Blick in den echten Sternenhimmel, während ich arbeite. Also muss das Bild mit dem blassblauen Punkt weiterhin genügen, um die Dinge im richtigen Verhältnis zu betrachten.
Quellen und Tipps
Voyager 1 und 2 (NASA)
Pale blue dot (NASA)
Carl Sagan (Wikipedia)
Buch
Gedanken von Carl Sagan über den „Pale blue dot“
Musik
Die finnische Musikgruppe Nightwish nimmt in „All the Works of Nature Which Adorn the World – Ad Astra“ (YouTube) Bezug auf den „Pale blue dot“ und ein Zitat von Carl Sagan
Wer schreibt da?
Mein Name ist Tanja Bischofberger. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Widerspruch. Was ohne Grenzen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Dennoch liebe ich es, über Sein-Erfahrungen zu berichten. Dadurch öffnet sich vielleicht hie und da eine Tür bei einem Menschen, sich ebenfalls auf diesen wunderbaren Weg zu machen bzw. anzukommen. Vielleicht auch du?