Das durchsichtige Ego

J'Von Jones auf Pixabay
J’Von Jones auf Pix­abay

Viele spir­ituelle Wege zie­len darauf ab, das Ego zu über­winden, es auszulöschen oder gar zu töten. Tat­säch­lich ist das Ego das Einzige, was dich und mich am Erken­nen der Wahrheit hin­dert. Doch diese innere Instanz ist kein Feind, son­dern höchst wan­del­bar und vor allem unab­d­ing­bar für uns Men­schen. Ich erzäh­le dir also die kurze Geschichte des Egos mal aus mein­er Per­spek­tive.

Die Eintrittskarte

Kommst du als Men­sch auf die Welt, trägst du dein Ego bere­its in dir. Zu Beginn, als Baby, ist es noch inak­tiv, du fühlst dich ver­bun­den mit allem. Du machst keinen Unter­schied zwis­chen einem Tisch und dein­er Mut­ter. Mit der Zeit lernst du, dass For­men Abgren­zun­gen sind, sich die Dinge unter­schei­den und andere auf dich reagieren (damit hältst du vor allem deine Eltern auf Trab). Du nimmst dich nach ein paar Monat­en als eigen­ständi­ges Wesen wahr.

Das Ego ist sozusagen die Ein­trittskarte für die Welt­bühne, auf der du die näch­sten paar Jahrzehnte ste­hen wirst. Selb­st wenn jemand behauptet, er oder sie sei vol­lkom­men erleuchtet, das Ego ist trotz­dem noch da als Bestandteil der vergänglichen men­schlichen Form. Nur so kannst du diese duale Welt über­haupt erfahren und erleben.

Die Bühne — das weltliche Ego

Du hast eine bes­timmte Rolle, die du auf der Welt­bühne zu spie­len hast. Diese Rolle ergibt sich aus deinen Genen, deinem Umfeld, deinen Tal­en­ten, deinen Schwächen, deinen Träu­men. Du inter­agierst mit andern Men­schen, ent­deckst die Welt, reagierst auf Verän­derun­gen oder stösst sel­ber solche an, du wählst deinen Weg. Du bist der Zeit aus­geliefert, von der Ver­gan­gen­heit geprägt, von der Zukun­ft gelockt. Du ver­suchst zu erre­ichen was «man» erwartet, Beziehun­gen, Fam­i­lie, Job, Freizeit etc. Oder du kreierst und erfind­est deine eigene Welt, so wie sie dir gefällt, und ent­fal­test dich zu etwas ganz Neuem. Das ist wun­der­bar, dafür bist du da. All das kön­ntest du ohne dein Ego, mit dem du dich inzwis­chen vol­lkom­men iden­ti­fizierst, nicht gestal­ten.

Die Illusion — Teil 1

Möglicher­weise schle­icht sich irgend­wann ein Gefühl ein, dass dich zutief­st verun­sichert. Wo du dich vorher sich­er fühltest, wirkt plöt­zlich alles frag­il und vergänglich. Objek­tiv betra­chtet geht es dir blendend. Du hast und bist alles, was du dir wün­schst, und den­noch kriecht eine Angst von weit unten nach oben in dein Bewusst­sein. Was ist, wenn du etwas ver­passt hast, irgend­wo falsch abge­bo­gen bist? Ist das wirk­lich alles? Du hin­ter­fragst dich, dein Leben und was du dir aufge­baut hast. Was bleibt, wenn das plöt­zlich zusam­men­bricht? Hast du dich von ein­er Illu­sion täuschen lassen?

Eine neue Rolle — das spirituelle Ego

Je nach Typus bist du nun offen, dich vom Aussen ab- und dem Innern zuzuwen­den. In der Spir­i­tu­al­ität und der Eso­terik suchst du nach Antworten, nach Erk­lärun­gen, dein­er Bes­tim­mung und dem Sinn im Leben. Du kon­sul­tierst dein Horoskop, küm­merst dich um dein ver­knotetes Kar­ma aus früheren Inkar­na­tio­nen, reinigst die Chakren, beginnst zu medi­tieren und reist zu einem Guru nach Indi­en.

Dein Ego war mal eben kurz in der Garder­obe, hat sich ein spir­ituelles Gewand überge­wor­fen und dabei ein angepasstes Drehbuch mit ein­er neuen Mis­sion vorge­fun­den: Du willst die Welt verbessern, dich jen­seits von Kon­sum, Habgi­er und Macht ver­wirk­lichen. Dir geht es um die inneren Werte, um Liebe und Ver­bun­den­heit. Ja, du bist auf dem richti­gen Weg, du ver­lässt die plätsch­ernde Ober­fläch­lichkeit und tauchst hinab in die Tiefe.

Die Illusion — Teil 2

Mit der Zeit spürst du vielle­icht wieder diese alt­bekan­nte Erschüt­terung, dies­mal eher in Form ein­er Müdigkeit, nahe an der Res­ig­na­tion. Warum sitzt auch nach der zehn­ten Fam­i­lien­auf­stel­lung immer noch die Trauer in deinem Herzen? Was hast du überse­hen? Wie kommt’s, dass du zwar im Aura-Sem­i­nar alles in bun­ten Far­ben siehst, dein All­t­ag den­noch grau bleibt? Wie oft musst du noch über Feuer laufen, dein Bewusst­sein mit allen möglichen und unmöglichen Tech­niken erweit­ern, um endlich anzukom­men?

Du erahnst eine weit­ere Illu­sion. Du spürst intu­itiv, dass sich die meis­ten spir­ituellen Konzepte nach wie vor am Prinzip von Ursache und Wirkung ori­en­tieren und so das weltliche Denken nur in ein­er höheren Dimen­sion fort­führen. Weil du mal das oder das gemacht hast, lei­dest du jet­zt. Oder wenn du dich so oder so ver­hältst, find­est du die Erleuch­tung. Du stellst dir wieder die Frage: Ist das alles? Ist das die Wahrheit?

Das durchsichtige Ego

Die fast exis­ten­zielle Sehn­sucht und Gewis­sheit, dass alles doch viel ein­fach­er sein muss, helfen dir dabei, auch die spir­ituellen Illu­sio­nen zu durch­schauen. Hier kann es nun geschehen, dass dein Ego plöt­zlich oder nach und nach durch­sichtig wird. Es stirbt nicht, es senkt sich bloss der Nebel und du bekommst eine klare Sicht auf das, was die Wahrheit ist. Du bist am Punkt der vol­lkomme­nen Stille, der puren Gegen­wär­tigkeit und Ein­heit, wo es nichts mehr zu tun, zu erre­ichen, aufzulösen oder abzuar­beit­en gibt.

Die Iden­ti­fika­tion mit deinen Gedanken und Gefühlen, deinem Kör­p­er, deinem Wollen, deinen Wün­schen, dein­er eige­nen Geschichte fällt ab. Raum und Zeit heben sich auf. Du musst nir­gends mehr hin und du warst nie weg. Die Essenz von allem, die flir­rende Schwingung des Seins, die reine Liebe, die Leben­skraft, aus der alles beste­ht, das bist du.

Ende gut, alles gut

Die klare Sicht führt dich zu ein­er vielle­icht etwas ver­wirren­den Erken­nt­nis: Ein­er­seits stehst du immer noch auf der Bühne und spielst deine Rolle, gle­ichzeit­ig sitzt du aber auch im Pub­likum und schaust dir sel­ber zu. Das geht nur, wenn dein Ego durch­sichtig ist und sich nicht mehr mit einem getren­nten Ich iden­ti­fiziert. Du bist Men­sch und das Sein. Sterblich und unsterblich. Gle­ichzeit­ig.

Wenn du dir das im Kopf vorstellst, ist das zugegeben ein biss­chen gruselig. Doch wenn du es erleb­st, stellst du dir die Frage nicht mehr, warum etwas so ist, wie es ist und ob das über­haupt geht. Es ist ein­fach. Zur Beruhi­gung: Nur dein Ego wird durch­sichtig, nicht du! Du bleib­st als Men­sch ein Teil dieser Welt und beteiligst dich an deren Gestal­tung. Nur eben anders, von innen her­aus und dadurch nach­haltiger.

Neue alte Wege

Als Men­sch tust du weit­er­hin, was dir wichtig ist. Du wehrst dich gegen Ungerechtigkeit, begleitest andere Men­schen in ihrer Entwick­lung, set­zt dich für die Umwelt ein etc. Mit einem kleinen Unter­schied, dein Ego muss sich nicht mehr aus der Anerken­nung nähren, es fühlt sich nicht mehr ver­let­zt oder gar als etwas besseres. Es durch­schaut die psy­chol­o­gis­chen Mech­a­nis­men, die sich aus der fälschlich angenom­men Tren­nung ergeben. Du tust, was du tust, weil du bist, was du bist, näm­lich das pure Leben, die Stille, das Sein, das sich durch dich als Men­schen aus­drückt. Das ist die abso­lut unz­er­stör­bare, innere Frei­heit.

Deine gelebte Stille wirkt wie eine glat­te Wasser­ober­fläche, in der sich andere Men­schen spiegeln und am Ende darin auch ihre eigene wahre Natur erken­nen. Kein 10-Punk­te-Pro­gramm, keine noch so aus­gek­lügelte Meth­ode ver­mag so viel zu bewirken und auszus­trahlen, wie ein ruhiger Geist, als Teil der ewigen Quelle.

Der letzte Vorhang

Irgend­wann fällt für uns alle der Vorhang. Die dualen Kulis­sen verblassen mehr und mehr. Spätestens hier erfährst du, wer oder was du in Wahrheit bist. Es spielt keine Rolle, ob du das vorher her­aus­ge­fun­den hast oder nicht, denn es wird nochmals ganz anders sein. Nie­mand, wirk­lich nie­mand, kann beschreiben, wie sich das kom­plette Loslösen des Kör­pers für dich anfühlen wird.

Vorstel­lun­gen über das Danach, über Licht­gestal­ten oder ein­er neuen Inkar­na­tion mögen Hoff­nung schenken und den Schreck­en des Todes nehmen. Ein durch­sichtiges Ego schaut und erfährt schon jet­zt die Ewigkeit und ist voll und ganz mit der Gegen­wär­tigkeit ver­woben. Der Wun­sch nach einem Danach ver­schwindet. Denn jed­er Moment, ob im Leben oder im Ster­ben, genügt sich selb­st.

P.S.: Das klingt ja schön und gut mit dem durch­sichti­gen Ego. Aber wie kommst du jet­zt da hin? Mein per­sön­lich­er Weg war und ist der­jenige der Stille. Wenn du das auch mal ver­suchen willst, hier find­est du eine Med­i­ta­tion: ein­fach. STILL. sein.

einfach-sein-tabi

Wer schreibt da?

Mein Name ist Tan­ja Bischof­berg­er. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Wider­spruch. Was ohne Gren­zen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Den­noch liebe ich es, über Sein-Erfahrun­gen zu bericht­en. Dadurch öffnet sich vielle­icht hie und da eine Tür bei einem Men­schen, sich eben­falls auf diesen wun­der­baren Weg zu machen bzw. anzukom­men. Vielle­icht auch du?