Das Ego kitzeln
Ein winterlicher Selbstversuch
Vor ein paar Tagen stapfte ich an einem eiskalten Morgen durch den Schnee zu einer Feuerstelle am Waldrand. Im Gepäck schleppte ich alle meine Tagebücher mit. Nicht um sie gemütlich im Schein der lodernden Flammen zu lesen, sondern sie vielmehr denselben zu übergeben. Ich wollte mit einem Test mein Ego etwas kitzeln. Ob das gelungen ist, erfährst du in diesem Blog.
Turbulenzen im Zeitgefühl
Einen Tag vor dieser Aktion hatte ich mein Buch ins Korrektorat geschickt, das heisst, inhaltliche Änderungen darf ich jetzt nicht mehr machen. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich ein Memoir verfasst habe. Das ist keine klassische Biografie (ich gehöre ja nicht zu den englischen Royals oder so ähnlich). Ich beleuchte das Thema Spiritualität aus meinem persönlichen Erleben heraus. Meine Geschichte ist daher schon auch darin verwoben. Denn wie soll sich Spiritualität anders ausdrücken, als durch unser Menschsein?
Gegen Ende des Buches beschreibe ich, wie sich bei mir heute alles auf den gegenwärtigen Moment konzentriert, da nichts anderes vorhanden ist, als das Jetzt. Lediglich das Ego gaukelt mir eine persönliche Vergangenheit und eine ebensolche Zukunft vor. Das habe ich auch während des Schreibens festgestellt: Ich fühlte mich überhaupt nicht (mehr) an die Vergangenheit gebunden. Selbstverständlich sind Erinnerungen da, sonst hätte ich das Buch gar nicht verfassen können. Aber sie entstehen sozusagen dann neu, wenn ich an sie denke und sie fühlen sich daher keineswegs «alt» an, sondern frisch und leicht, selbst die tragischen Begebenheiten. Der Schreibprozess wirkte daher nicht als Therapie, sondern bestand viel mehr aus der Herausforderung, überhaupt wieder einen Bezug zu meiner Vergangenheit herzustellen. Dank den handschriftlichen Notizen hatte ich immerhin ein paar Fakten vor mir, das half ungemein.
Gedankengut
Als ich vor allem in meiner Jugendzeit Tagebücher schrieb, identifizierte ich mich voll und ganz mit meinem damaligen Menschsein und den ab und wann etwas kuriosen Erfahrungen mit dieser Welt. Viele Gedanken habe ich niemals auf andere Menschen losgelassen. Zu gross war die Befürchtung, nicht verstanden zu werden. So hielt ich meine «echte» Identität geheim und in geschriebener Form fest. Ich stellte mir vor, dass wenn das jemand nach meinem Tod liest, er oder sie mein wahres Ich kennenlernte. Das wäre dann so eine Art krasse Enthüllungsstory. Damals ahnte ich nichts von meiner späteren Erfahrung, dass überhaupt gar kein Ich existiert… Da ist nur das eine Sein, aus dem alles entsteht, immer im Jetzt. Diesen spirituellen Weg habe ich in meinem Memoir festgehalten. Wozu brauche ich diese Tagebücher noch? Da kam mir die Idee, mein Ego etwas zu kitzeln, denn früher machte es ein unglaubliches Theater, wenn irgendetwas aus der Vergangenheit infrage gestellt oder gar vernichtet wurde.
Und wo ist jetzt das Ego?
Während ich also Blatt für Blatt den Flammen übergab, regte sich überhaupt nichts. Nicht der geringste Muks (huch, warum wird das jetzt plötzlich so heiss?), kein Protest (wie kannst du mir das nur antun!), kein Gejammer (aber wie soll ich mich jetzt an diese frühere Zeit erinnern?) und kein Drama (so wird die Welt ja nie erfahren, welch’ überaus tiefschürfenden Gedanken ich damals zu Papier brachte!). Das war voll friedlich, die gefrässigen Flammen bei ihrer Arbeit zu beobachten.
Erinnerungen ohne Anhaftung
Das soll jetzt kein Aufruf sein, deine Vergangenheit ebenso in Schutt und Asche zu legen. Auch die Erfahrung, wie ich dieses Ritual erlebt habe, will ich keinesfalls überbewerten und als erstrebenswert deklarieren. Es ist wie es ist.
Wenn du aber mal kurz checken willst, wie kitzlig dein Ego ist, reicht ein Gedankenspiel. Was wäre, wenn auf einmal alle Fotos auf deinem Handy, auf Instagram & Co., im klassischen Fotoalbum etc. gelöscht oder verschwunden wären? Oder welcher Gegenstand aus deiner Vergangenheit ist dir sehr wichtig und wie würdest du dich ohne ihn fühlen?
Erinnerungen sind menschlich und überhaupt nicht verkehrt, egal ob schön oder nicht. Interessant ist, wie sehr du dich damit identifizierst. Musst du sie fast zwanghaft immer wieder hervorholen? Fühlst du dich dann gut oder eher schlecht? Kannst du den gegenwärtigen Moment wahrnehmen, ohne einen Vergleich zu früher herzustellen? Eine Vergangenheit zu haben, aber sie nicht zu sein, das macht den wirklich grossen Unterschied. Das lässt dich frei fliegen.
Vielleicht magst du mir mitteilen, ob dein Ego kitzlig ist?
P.S.:
Solch lodernde Flammen wie auf dem Bild kriegte ich mit dem nassen Holz nicht hin, trotz einschlägigen Erfahrungen von zig Überlebensübungen in der Pfadi / Blauring.
Wer schreibt da?
Mein Name ist Tanja Bischofberger. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Widerspruch. Was ohne Grenzen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Dennoch liebe ich es, über Sein-Erfahrungen zu berichten. Dadurch öffnet sich vielleicht hie und da eine Tür bei einem Menschen, sich ebenfalls auf diesen wunderbaren Weg zu machen bzw. anzukommen. Vielleicht auch du?