Die Doppelnatur des Menschen — Teil 1

Bild zur Doppelnatur in Form einer Lemniskate
sakkmesterke auf iStock

Erin­nerst du dich an Momente in totaler Ver­bun­den­heit mit allem? Wo dich eine Ahnung oder gar Klarheit durch­strömte, mehr als das zu sein, was du bish­er von dir geglaubt hast? Oder du dich trotz ein­er schw­eren Leben­sphase aufge­hoben und getra­gen fühltest? Das alles sind Hin­weise auf die Dop­pel­natur des Men­schen.

Was ist die Doppelnatur des Menschen?

Du hast einen irdis­chen Ursprung als Men­sch, gle­ichzeit­ig ist in dir eine Wesen­sart enthal­ten, die jen­seits von Zeit und Raum existiert. Ich nenne es das stille kreative Bewusst­sein, das Göt­tliche, die wahre Natur oder auch nur das Sein. Du bewegst dich als Men­sch auf dieser Erde, gle­ichzeit­ig bist du und alles um dich herum von der unbeschreib­baren Seins-Kraft durch­drun­gen, egal ob dir das bewusst ist oder nicht.

Das ist erst mal nichts weit­er als eine schöne Idee, eine Hypothese, ein Glaube, eine Hoff­nung. Tief in deinem Inneren stimmt etwas dieser Aus­sage vielle­icht sog­ar zu. Doch wie kannst du sich­er sein, dass sie wahr ist? Was würde sich verän­dern, wenn dein Men­sch­sein auf ein­mal nur noch eine Seite der Medaille ist und nicht mehr DIE Medaille als solch­es? Es liegt in der Natur der Spir­i­tu­al­ität, dass sie sich nicht beweisen, son­dern nur indi­vidu­ell erfahren lässt. Das heisst, nur du kannst her­aus­find­en, was es mit der Dop­pel­natur des Men­schen auf sich hat. Auf diese Ent­deck­ungsreise lade ich dich hier­mit ein.

Auf Spurensuche

In deinem Leben hat sich die wahre Natur wahrschein­lich irgend­wann bere­its bemerk­bar gemacht, anson­sten würde dich dieser Inhalt nicht die Bohne inter­essieren und du wärst wohl nie bei diesem Blog gelandet. Die Erfahrung war vielle­icht so kurz oder belan­g­los, dass du sie als Zufall oder vorüberge­hende Phase abge­tan und vergessen hast. Schau’ mal, ob dir das eine oder andere Beispiel bekan­nt vorkommt.

Kindheit

Als Kind bist du dein­er wahren Natur, dem reinen Sein, sehr nahe (wie auch später wieder im Ster­be­prozess). Erin­nere dich an Momente vol­lkommen­er Selb­stvergessen­heit, im Spiel oder im Ent­deck­en dein­er Umge­bung. Erin­nere dich an die offene und wert­freie Annahme von dem, was ger­ade geschieht. Das Gefühl von Zeit­losigkeit und unbe­gren­zten Möglichkeit­en, geschaf­fen aus dem fil­igra­nen Stoff der Fan­tasie, noch gän­zlich unberührt von Schw­erkraft und Begren­zung der soge­nan­nten Real­ität.

Bevor du jet­zt abwinkst, weil deine Kind­heit alles andere als glück­lich war: Frage dich, welche Kraft dich bis heute am Leben erhal­ten hat. Das Sein zaubert nicht nur rosarote Ein­hörn­er, son­dern wirkt auch als innere Stärke, Mut und Über­lebenswille.

Glücksmomente

Sie fall­en ein­fach so über dich her. Mit­ten im Wald auf einem Spazier­gang, oder während du Musik hörst, dein Baby stillst, einen Berg erk­limmst, an deinem Mod­ell­flieger bas­telst oder für Fre­unde kochst. Auf ein­mal hebt sich das Zeit­ge­fühl auf, du bist mit der Welt im Reinen und mit allem in einem tiefen Frieden ver­bun­den.

Da diese Momente so schnell ver­schwinden, wie sie gekom­men sind, wer­den sie oft mit der jew­eili­gen Sit­u­a­tion ver­bun­den. Mit dem roman­tis­chen Son­nenun­ter­gang, musikalis­chen Har­monien, einem berühren­den Text, den Hor­mo­nen oder son­st etwas. Es sind in der Tat solche Trig­ger, die dir den inneren Zugang zum Sein ermöglichen. Darum willst du dir immer wieder solche Rah­menbe­din­gun­gen schaf­fen, um dein wahres Wesen zu spüren. Irgend­wann wird dir bewusst, dass du dazu keinen äusseren Aus­lös­er brauchst, das Sein ist ja längst da.

Grenzerfahrungen

So para­dox es klingt, lebens­bedrohliche Momente, Zeit­en des Lei­dens kön­nen eben­falls ein Trig­ger sein. Wenn deine eigene Exis­tenz oder die ein­er anderen Per­son in Gefahr ist, sei es bei einem Unfall, ein­er akuten Erkrankung, Gewalt oder in kaum aushalt­bare Umstände, kann für eine begren­zte Zeit eine unkon­trol­lierte Disiden­ti­fika­tion mit dem men­schlichen Dasein ein­treten. Es ist, als würde es dich als Men­sch nicht mehr geben, und doch bist du am Leben. Ein Teil dieser Erfahrung lässt sich auf die kör­pereige­nen Mech­a­nis­men zurück­führen. Doch darunter liegt die Präsenz des reinen Bewusst­seins. Rück­blick­end bericht­en Betrof­fene davon, wie sie sich während des Ereigniss­es trotz allem sich­er, heil und aufge­hoben fühlten. So oder so soll­ten Gren­z­er­fahrun­gen anschliessend sorgsam ver­ar­beit­et wer­den.

Häppchen

Das Sein zeigt sich manch­mal auch undrama­tisch, ohne Grund und ohne die bunte Ver­pack­ung eines Glück­mo­ments. Wenn du zu den Men­schen gehörst, die ein­er spir­ituellen Aus­rich­tung fol­gen, bemerkst du eher beiläu­fig, dass sich in deinem Bewusst­sein etwas verän­dert hat. Du nimmst auf ein­mal nicht mehr alles per­sön­lich, empfind­est Klarheit in deinen Entschei­dun­gen, ver­stehst Zusam­men­hänge auf ein­er anderen Ebene, machst dir keine Sorge mehr um die Zukun­ft, bew­ertest wed­er Men­schen noch Sit­u­a­tio­nen, ent­deckst aller­lei Neues im All­t­ag, weil du acht­samer bist. Deine Gedanken beruhi­gen sich, die Emo­tio­nen erleb­st du in ein­er neuen Qual­ität, sie tauchen in der vollen Inten­sität des Augen­blicks auf, beherrschen und beschäfti­gen dich aber nicht mehr tage­lang.

Manch­mal fol­gt auf eine solch erhebende Bewusst­sein­swelle eine län­gere Phase der Inte­gra­tion: Das Sein zieht sich zurück und du wirst wie von Zauber­hand mit allen möglichen «irdis­chen» Prob­le­men kon­fron­tiert. Diese Zeit ist wichtig, denn es geht nicht darum, weniger Men­sch zu sein, son­dern bei­des in einem Gle­ichgewicht zu hal­ten. Lasse dich also dadurch nicht verun­sich­ern oder gar an dir zweifeln. Der näch­ste Entwick­lungss­chritt fol­gt bes­timmt, vor allem dann, wenn du aufhörst, ihn her­beizusehnen.

Erwachen

Was wie im oberen Abschnitt beschrieben häp­pchen­weise ins Leben tritt, kann im Gegen­satz dazu in ein­er Sekunde dein ganzes Dasein aus den Fugen heben, eben­falls ohne Aus­lös­er und unab­hängig von ein­er bes­timmten «Entwick­lungsstufe». Alle Schleier, die dein Bewusst­sein bis jet­zt ver­hüllt haben, fall­en in einem Moment. Das führt zu ein­er psy­chis­chen und auch physis­chen Erschüt­terung mit gle­ichzeit­iger Befreiung, dein Ich-Gefühl tritt auf ein Min­i­mum zurück und du bist eins mit allem. Hier passen Begriffe wie «Erwachen» oder «Samad­hi». Anschliessend fol­gt eben­falls eine Phase der Inte­gra­tion, die nicht zu unter­schätzen ist.

In vie­len spir­ituellen Lehren wird dies als das zu erre­ichende Ziel definiert. Ich per­sön­lich sehe das nicht so eng, denn keine Prax­is, kein Rit­u­al, keine Askese kann einen solchen Moment gezielt her­beiführen. Vielle­icht begün­sti­gen, ja, aber nicht garantieren. Bist du ganz im Hier und Jet­zt, ent­fällt jeglich­er Gedanke an ein spir­ituelles Ziel — eine nicht weniger anspruchsvolle Übung wie fünf Stun­den am Tag medi­tieren zu wollen :-).

Helfende Hand

Im Helfen drückt sich die Seins-Natur gerne aus. Damit meine ich nicht die berech­nende Hil­fe, die (meist unbe­wusst) auf Anerken­nung oder Beloh­nung abzielt und bloss das eigene Ego stre­ichelt. Es geht um die selb­st­lose stille Hingabe, egal in welch­er Sit­u­a­tion, ob Men­sch, Tier, Natur. Der Seins-Moment zeigt sich während der Hand­lung in Form der richti­gen Worte, der Klarheit, was zu tun ist, ein­er inneren Ruhe und einem uner­müdlichen Antrieb. Natür­lich darf­st du die darauf­fol­gende Dankbarkeit mit Freude annehmen. Doch dir ist bewusst, dass du nicht deswe­gen hil­f­st. Du tust es, weil du nicht anders kannst, weil es deine Natur ist, zu helfen.

Sterbeprozess

Der Kreis schliesst sich, die äussere men­schliche Form wird immer wie durch­läs­siger. Was sich in der Kinderzeit in die Verdich­tung drängte, in die Erfahrun­gen durch die Sinne, das Auskosten des Lebens in der Dual­ität, lock­ert sich nach und nach wieder auf, bis hin zur Auflö­sung. Hier find­et ein Hin- und Her­pen­deln zwis­chen dem Zus­tand absoluter Ich-Losigkeit im ewigen Bewusst­sein und der men­schlichen Ich-Iden­ti­fika­tion statt. Die Berichte von Ster­ben­den oder Men­schen mit Nah­toder­fahrun­gen bezeu­gen die Exis­tenz der geisti­gen Natur sehr ein­drück­lich (vgl. Lit­er­atur­tipp).

Exkurs: Die Doppelnatur in der Wissenschaft

Ob die fol­gen­den Beispiele die Dop­pel­natur des Men­schen unter­mauern oder nicht, lasse ich offen, faszinierend ist dieser Wis­senszweig alle­mal.

Da wäre die Quan­ten­physik, welche am Anfang des 20. Jahrhun­derts die Welt der Physik auf den Kopf stellte. Exper­i­mente zeigten mehr und mehr auf, dass nichts so war, wie bish­er angenom­men. Kle­in­ste Ele­mente kön­nen gle­ichzeit­ig Welle und Teilchen sein und sich zudem gle­ichzeit­ig an ver­schiede­nen Orten befind­en. Erst wenn sie beobachtet wer­den, entschei­den sie sich für einen Zus­tand (entwed­er Welle oder Teilchen) und lassen sich verorten. Zudem sind sie auf geheimnisvolle Weise ver­schränkt und reagieren aufeinan­der, selb­st wenn sie räum­lich weit voneinan­der ent­fer­nt sind. Das klingt alles ver­rückt, zumal die Physik auf ein­mal die ver­staubte philosophis­che Wüh­lk­iste vom Dachbo­den ins Labor holt, um Antworten zu find­en (vgl. Lit­er­atur­tipp).

Das math­e­ma­tis­che Unendlich-Zeichen, die Lem­niskate, in Form ein­er liegen­den Acht, ist für mich eben­falls ein tre­f­fend­es Sym­bol der Dop­pel­natur. Hier wer­den zwei Pole umkreist, der Schwung, der von der einen Seite ein­tritt, reicht ger­ade noch aus, um den ent­ge­genge­set­zten Pol zu umkreisen. Auf diese Weise dauert die Bewe­gung unendlich lange an. Schau’ dir mal diese ani­mierte Kon­struk­tion ein­er Lem­niskate an, das ver­set­zt dich bes­timmt in eine med­i­ta­tive Stim­mung…

 

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Das war lediglich eine beschei­dene Auswahl, wie sich die Seins-Natur bemerk­bar machen kön­nte. Hast du solche Grüsse von der Ewigkeit in deinem Leben ent­deckt? Magst du mir darüber bericht­en, welche das waren?

Im näch­sten Blog­beitrag gehe ich der Frage nach, warum das Sein über­haupt eine Form braucht, warum es Sinn macht, sich der Dop­pel­natur bewusst zu sein und was die Stille mit But­ter zu tun hat…

Auf bald!

Lit­er­atur­tipps:

  • Peter und Eliz­a­beth Fen­wick: Die Kun­st des Ster­bens
  • Renée Weber: Alles Leben ist eins — Die Begeg­nung von Quan­ten­physik und Mys­tik
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Wer schreibt da?

Mein Name ist Tan­ja Bischof­berg­er. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Wider­spruch. Was ohne Gren­zen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Den­noch liebe ich es, über Sein-Erfahrun­gen zu bericht­en. Dadurch öffnet sich vielle­icht hie und da eine Tür bei einem Men­schen, sich eben­falls auf diesen wun­der­baren Weg zu machen bzw. anzukom­men. Vielle­icht auch du?