Die Doppelnatur des Menschen – Teil 1
Erinnerst du dich an Momente in totaler Verbundenheit mit allem? Wo dich eine Ahnung oder gar Klarheit durchströmte, mehr als das zu sein, was du bisher von dir geglaubt hast? Oder du dich trotz einer schweren Lebensphase aufgehoben und getragen fühltest? Das alles sind Hinweise auf die Doppelnatur des Menschen.
Was ist die Doppelnatur des Menschen?
Du hast einen irdischen Ursprung als Mensch, gleichzeitig ist in dir eine Wesensart enthalten, die jenseits von Zeit und Raum existiert. Ich nenne es das stille kreative Bewusstsein, das Göttliche, die wahre Natur oder auch nur das Sein. Du bewegst dich als Mensch auf dieser Erde, gleichzeitig bist du und alles um dich herum von der unbeschreibbaren Seins-Kraft durchdrungen, egal ob dir das bewusst ist oder nicht.
Das ist erst mal nichts weiter als eine schöne Idee, eine Hypothese, ein Glaube, eine Hoffnung. Tief in deinem Inneren stimmt etwas dieser Aussage vielleicht sogar zu. Doch wie kannst du sicher sein, dass sie wahr ist? Was würde sich verändern, wenn dein Menschsein auf einmal nur noch eine Seite der Medaille ist und nicht mehr DIE Medaille als solches? Es liegt in der Natur der Spiritualität, dass sie sich nicht beweisen, sondern nur individuell erfahren lässt. Das heisst, nur du kannst herausfinden, was es mit der Doppelnatur des Menschen auf sich hat. Auf diese Entdeckungsreise lade ich dich hiermit ein.
Auf Spurensuche
In deinem Leben hat sich die wahre Natur wahrscheinlich irgendwann bereits bemerkbar gemacht, ansonsten würde dich dieser Inhalt nicht die Bohne interessieren und du wärst wohl nie bei diesem Blog gelandet. Die Erfahrung war vielleicht so kurz oder belanglos, dass du sie als Zufall oder vorübergehende Phase abgetan und vergessen hast. Schau’ mal, ob dir das eine oder andere Beispiel bekannt vorkommt.
Kindheit
Als Kind bist du deiner wahren Natur, dem reinen Sein, sehr nahe (wie auch später wieder im Sterbeprozess). Erinnere dich an Momente vollkommener Selbstvergessenheit, im Spiel oder im Entdecken deiner Umgebung. Erinnere dich an die offene und wertfreie Annahme von dem, was gerade geschieht. Das Gefühl von Zeitlosigkeit und unbegrenzten Möglichkeiten, geschaffen aus dem filigranen Stoff der Fantasie, noch gänzlich unberührt von Schwerkraft und Begrenzung der sogenannten Realität.
Bevor du jetzt abwinkst, weil deine Kindheit alles andere als glücklich war: Frage dich, welche Kraft dich bis heute am Leben erhalten hat. Das Sein zaubert nicht nur rosarote Einhörner, sondern wirkt auch als innere Stärke, Mut und Überlebenswille.
Glücksmomente
Sie fallen einfach so über dich her. Mitten im Wald auf einem Spaziergang, oder während du Musik hörst, dein Baby stillst, einen Berg erklimmst, an deinem Modellflieger bastelst oder für Freunde kochst. Auf einmal hebt sich das Zeitgefühl auf, du bist mit der Welt im Reinen und mit allem in einem tiefen Frieden verbunden.
Da diese Momente so schnell verschwinden, wie sie gekommen sind, werden sie oft mit der jeweiligen Situation verbunden. Mit dem romantischen Sonnenuntergang, musikalischen Harmonien, einem berührenden Text, den Hormonen oder sonst etwas. Es sind in der Tat solche Trigger, die dir den inneren Zugang zum Sein ermöglichen. Darum willst du dir immer wieder solche Rahmenbedingungen schaffen, um dein wahres Wesen zu spüren. Irgendwann wird dir bewusst, dass du dazu keinen äusseren Auslöser brauchst, das Sein ist ja längst da.
Grenzerfahrungen
So paradox es klingt, lebensbedrohliche Momente, Zeiten des Leidens können ebenfalls ein Trigger sein. Wenn deine eigene Existenz oder die einer anderen Person in Gefahr ist, sei es bei einem Unfall, einer akuten Erkrankung, Gewalt oder in kaum aushaltbare Umstände, kann für eine begrenzte Zeit eine unkontrollierte Disidentifikation mit dem menschlichen Dasein eintreten. Es ist, als würde es dich als Mensch nicht mehr geben, und doch bist du am Leben. Ein Teil dieser Erfahrung lässt sich auf die körpereigenen Mechanismen zurückführen. Doch darunter liegt die Präsenz des reinen Bewusstseins. Rückblickend berichten Betroffene davon, wie sie sich während des Ereignisses trotz allem sicher, heil und aufgehoben fühlten. So oder so sollten Grenzerfahrungen anschliessend sorgsam verarbeitet werden.
Häppchen
Das Sein zeigt sich manchmal auch undramatisch, ohne Grund und ohne die bunte Verpackung eines Glückmoments. Wenn du zu den Menschen gehörst, die einer spirituellen Ausrichtung folgen, bemerkst du eher beiläufig, dass sich in deinem Bewusstsein etwas verändert hat. Du nimmst auf einmal nicht mehr alles persönlich, empfindest Klarheit in deinen Entscheidungen, verstehst Zusammenhänge auf einer anderen Ebene, machst dir keine Sorge mehr um die Zukunft, bewertest weder Menschen noch Situationen, entdeckst allerlei Neues im Alltag, weil du achtsamer bist. Deine Gedanken beruhigen sich, die Emotionen erlebst du in einer neuen Qualität, sie tauchen in der vollen Intensität des Augenblicks auf, beherrschen und beschäftigen dich aber nicht mehr tagelang.
Manchmal folgt auf eine solch erhebende Bewusstseinswelle eine längere Phase der Integration: Das Sein zieht sich zurück und du wirst wie von Zauberhand mit allen möglichen «irdischen» Problemen konfrontiert. Diese Zeit ist wichtig, denn es geht nicht darum, weniger Mensch zu sein, sondern beides in einem Gleichgewicht zu halten. Lasse dich also dadurch nicht verunsichern oder gar an dir zweifeln. Der nächste Entwicklungsschritt folgt bestimmt, vor allem dann, wenn du aufhörst, ihn herbeizusehnen.
Erwachen
Was wie im oberen Abschnitt beschrieben häppchenweise ins Leben tritt, kann im Gegensatz dazu in einer Sekunde dein ganzes Dasein aus den Fugen heben, ebenfalls ohne Auslöser und unabhängig von einer bestimmten «Entwicklungsstufe». Alle Schleier, die dein Bewusstsein bis jetzt verhüllt haben, fallen in einem Moment. Das führt zu einer psychischen und auch physischen Erschütterung mit gleichzeitiger Befreiung, dein Ich-Gefühl tritt auf ein Minimum zurück und du bist eins mit allem. Hier passen Begriffe wie «Erwachen» oder «Samadhi». Anschliessend folgt ebenfalls eine Phase der Integration, die nicht zu unterschätzen ist.
In vielen spirituellen Lehren wird dies als das zu erreichende Ziel definiert. Ich persönlich sehe das nicht so eng, denn keine Praxis, kein Ritual, keine Askese kann einen solchen Moment gezielt herbeiführen. Vielleicht begünstigen, ja, aber nicht garantieren. Bist du ganz im Hier und Jetzt, entfällt jeglicher Gedanke an ein spirituelles Ziel – eine nicht weniger anspruchsvolle Übung wie fünf Stunden am Tag meditieren zu wollen :-).
Helfende Hand
Im Helfen drückt sich die Seins-Natur gerne aus. Damit meine ich nicht die berechnende Hilfe, die (meist unbewusst) auf Anerkennung oder Belohnung abzielt und bloss das eigene Ego streichelt. Es geht um die selbstlose stille Hingabe, egal in welcher Situation, ob Mensch, Tier, Natur. Der Seins-Moment zeigt sich während der Handlung in Form der richtigen Worte, der Klarheit, was zu tun ist, einer inneren Ruhe und einem unermüdlichen Antrieb. Natürlich darfst du die darauffolgende Dankbarkeit mit Freude annehmen. Doch dir ist bewusst, dass du nicht deswegen hilfst. Du tust es, weil du nicht anders kannst, weil es deine Natur ist, zu helfen.
Sterbeprozess
Der Kreis schliesst sich, die äussere menschliche Form wird immer wie durchlässiger. Was sich in der Kinderzeit in die Verdichtung drängte, in die Erfahrungen durch die Sinne, das Auskosten des Lebens in der Dualität, lockert sich nach und nach wieder auf, bis hin zur Auflösung. Hier findet ein Hin- und Herpendeln zwischen dem Zustand absoluter Ich-Losigkeit im ewigen Bewusstsein und der menschlichen Ich-Identifikation statt. Die Berichte von Sterbenden oder Menschen mit Nahtoderfahrungen bezeugen die Existenz der geistigen Natur sehr eindrücklich (vgl. Literaturtipp).
Exkurs: Die Doppelnatur in der Wissenschaft
Ob die folgenden Beispiele die Doppelnatur des Menschen untermauern oder nicht, lasse ich offen, faszinierend ist dieser Wissenszweig allemal.
Da wäre die Quantenphysik, welche am Anfang des 20. Jahrhunderts die Welt der Physik auf den Kopf stellte. Experimente zeigten mehr und mehr auf, dass nichts so war, wie bisher angenommen. Kleinste Elemente können gleichzeitig Welle und Teilchen sein und sich zudem gleichzeitig an verschiedenen Orten befinden. Erst wenn sie beobachtet werden, entscheiden sie sich für einen Zustand (entweder Welle oder Teilchen) und lassen sich verorten. Zudem sind sie auf geheimnisvolle Weise verschränkt und reagieren aufeinander, selbst wenn sie räumlich weit voneinander entfernt sind. Das klingt alles verrückt, zumal die Physik auf einmal die verstaubte philosophische Wühlkiste vom Dachboden ins Labor holt, um Antworten zu finden (vgl. Literaturtipp).
Das mathematische Unendlich-Zeichen, die Lemniskate, in Form einer liegenden Acht, ist für mich ebenfalls ein treffendes Symbol der Doppelnatur. Hier werden zwei Pole umkreist, der Schwung, der von der einen Seite eintritt, reicht gerade noch aus, um den entgegengesetzten Pol zu umkreisen. Auf diese Weise dauert die Bewegung unendlich lange an. Schau’ dir mal diese animierte Konstruktion einer Lemniskate an, das versetzt dich bestimmt in eine meditative Stimmung…
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Das war lediglich eine bescheidene Auswahl, wie sich die Seins-Natur bemerkbar machen könnte. Hast du solche Grüsse von der Ewigkeit in deinem Leben entdeckt? Magst du mir darüber berichten, welche das waren?
Im nächsten Blogbeitrag gehe ich der Frage nach, warum das Sein überhaupt eine Form braucht, warum es Sinn macht, sich der Doppelnatur bewusst zu sein und was die Stille mit Butter zu tun hat…
Auf bald!
Literaturtipps:
- Peter und Elizabeth Fenwick: Die Kunst des Sterbens
- Renée Weber: Alles Leben ist eins – Die Begegnung von Quantenphysik und Mystik
Wer schreibt da?
Mein Name ist Tanja Bischofberger. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Widerspruch. Was ohne Grenzen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Dennoch liebe ich es, über Sein-Erfahrungen zu berichten. Dadurch öffnet sich vielleicht hie und da eine Tür bei einem Menschen, sich ebenfalls auf diesen wunderbaren Weg zu machen bzw. anzukommen. Vielleicht auch du?