Frieden im Chaos
Ein Fragebogen…
Vor ein paar Tagen bin ich auf eine Umfrage einer spirituellen Organisation gestossen, die wissen wollte, was die aktuelle Weltlage (Klima, Corona, Krieg etc.) mit den Menschen macht. Zwischendurch fülle ich ganz gerne Fragebögen aus. Bei einer Frage musste ich einen Moment innehalten:
Haben Sie das Gefühl, von sicher Geglaubtem Abschied nehmen zu müssen?
Auswahl:
- Ja, ich merke, dass ich Nachteile und Einbussen in Kauf nehmen muss
- Weiss ich leider nicht mehr 🙂
- Nein, die Krisen beschäftigen mich persönlich nicht
Mir schien, dass sich das Nein von Nummer drei vermutlich auf eine Art Gleichgültigkeit bezieht, was bei mir überhaupt nicht der Fall ist. Trotzdem erinnerte mich diese Ausgangslage an ein Dilemma aus meiner Jugendzeit: Darf ich innerlich im Frieden sein, wenn draussen das Chaos herrscht? Heute empfinde ich das nicht mehr als Widerspruch, weil ich die Einheit von solchen Gegensätzen erfahren durfte. Beides entstammt dem Sein.
Doppelte Auswahl
Zurück zum Fragebogen. O Wunder, ich konnte tatsächlich mehrere Antworten angeben (das ist bei Online-Umfragen nicht immer möglich) und zudem einen Kommentar hinschreiben:
«Zum Glück kann ich zwei Kästchen ankreuzen. Wenn ich nach innen schaue, mich dem göttlichen Frieden hingebe, dann ist da kein Gefühl von Abschied oder Verzicht. Da ist Fülle, Licht, Verbundenheit, Ewigkeit. Schaue ich aber nach aussen in die Welt, in der ich mich als Mensch bewege und Teil davon bin, dann muss ich sehr wohl Einbussen in Kauf nehmen. Wie soll es eine Veränderung geben, wenn alle denken, wir können so weiterleben, wie wir es gewohnt sind? Vielleicht fällt es mir etwas leichter, aktiv auf diese Veränderung, diese Einbussen, zuzugehen, weil meine Innenwelt, dieser innere Frieden, nach Aussen streben will. Denn das Innere und das Äussere sind in Wahrheit eins.»
Während ich diesen Kommentar schrieb meldeten sich altbekannte Gedankenmuster: Du hast leicht schreiben, dir geht es ja gut, du bist im Moment sicher, hast ein Dach über dem Kopf, Essen und bist gesund. Aber würde dieses innere Licht auch noch brennen, wenn du wirklich in echter existenzieller Not wärst?
Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.
Echte Seins-Erfahrung
Da griff ich wieder einmal zu den Tagebüchern von Etty Hillesum (vgl. den Blogbeitrag Das Leben ist schön), der niederländischen Jüdin, die für mich mit ihrer inneren Haltung ein Vorbild ist. Aus dem Durchgangslager Westerbork, täglich konfrontiert mit Leid und Tod, schrieb sie am 11. August 1943 folgendes in einem Brief:
(…)
«Ach, weisst du, wenn man hier nicht eine grosse innere Stärke besitzt und alle Äusserlichkeiten nicht als malerische Nebensächlichkeiten betrachtet, die kaum ins Gewicht fallen gegenüber der grossen Herrlichkeit (mir fällt im Augenblick kein anderes Wort ein), die unser unveräusserlicher innerer Besitz sein kann – dann ist es hier recht hoffnungslos.»
(…)
«Die Menschen sagen manchmal: «Du machst auch überall das Beste draus.». Ich halte das für eine kleinmütige Redensart. Es ist überall gut. Und gleichzeitig sehr schlecht. Beides hält sich im Gleichgewicht, überall und immer. Ich habe nie das Gefühl, dass ich aus irgend etwas das Beste machen muss, alles ist immer gut, so wie es ist. Jede Situation, so elend sie auch sei, ist etwas Absolutes und das Gute und Schlechte in sich eingeschlossen.»
(…)
In ihren Texten ist diese Kraft spürbar, sie wirkt inspirierend, belebend und schenkt Hoffnung. Überlebende aus dem KZ Auschwitz haben berichtet, dass Etty bis zu ihrer Ermordung eine «leuchtende Persönlichkeit» war und immer anderen Menschen beigestanden ist. Ja, der innere Friede im Chaos ist möglich.
Der Weg der Stille
Doch wie ist diese innere Stärke, das Absolute zu finden? Für mich persönlich war es der Weg der Stille. Vermutlich deshalb, weil mein Kopf jahrelang ein recht anstrengendes Plappermaul war… Und es dauert eine ganze Weile, bis ich das Geplauder durchschauen konnte. Die Gedanken im Kopf sind Ursache für manches Leid. Erst wenn die Fähigkeit da ist, diese ein- und auszuschalten, beginnt die Freiheit.
In der Stille öffnen sich Tür und Tor zu dem, was du in Wahrheit bist. Dadurch leeren sich die Gedanken und mit den Gedanken die damit verbunden Gefühle von Angst, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Zuletzt lösen sich die Fesseln der Identifikation und das Gefühl, ein vom Göttlichen getrenntes Ich zu sein. Dann erfährst du in dir die Unsterblichkeit und geglaubte Gegensätze werden eins im Sein, das du bist.
P.S.: Vielleicht willst du das mit der Stille auch mal ausprobieren? Hier geht’s zur Meditation: einfach. STILL. sein.
Wer schreibt da?
Mein Name ist Tanja Bischofberger. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Widerspruch. Was ohne Grenzen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Dennoch liebe ich es, über Sein-Erfahrungen zu berichten. Dadurch öffnet sich vielleicht hie und da eine Tür bei einem Menschen, sich ebenfalls auf diesen wunderbaren Weg zu machen bzw. anzukommen. Vielleicht auch du?